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Das magische Jahr 1982, die Zimmermänner oder: Als die Popmusik es einmal fast bis nach Deutschland geschafft hätte

Detlef Diederichsen, Timo Blunck und Christian Kellersmann sind erst Skafighter, dann die Zimmermänner. Bis heute. 

Punk war wichtig. Das spürte ich in den ausgehenden 70er Jahren. Aber auch sehr langweilig. Drei Akkorde, eine Uniform aus schwarzer Lederjacke, T-Shirts mit Löchern und bunten Haaren – das konnte nicht länger interessant sein als eineinhalb Jahre. Aber immerhin schoss diese neue Musik ein hässliches Loch in die selbstzufriedene Hippiewelt mit ihren Palästinenserschals, Bundeswehrparkas und Teestunden bei Kerzenlicht. Es wurde ungemütlicher, es ging raus auf die Straße, eine besondere Energie lag in der Luft – und plötzlich gab es Hoffnung. Pop in Deutschland könnte möglich sein. Eine Tür ging auf.

Durch diese weit offene Tür spazierten in Hamburg in den sehr frühen 80ern eine ganze Reihe von Bands und Musikern. 1980 und 1981 erschienen vier Singles von Palais Schaumburg. Das klang nach Kunst. Nach Dada oder Quatsch. „Ich glaub’ ich bin ein Telefon, romantisches, kleines Telefon.“ Vor allem klang es neu – und in keiner Sekunde nach Rock. Ähnlich strikter Anti-Rock kam vom 16jährigen Andreas Dorau, der sein Debütalbum „Blumen und Narzissen“ veröffentlichte.

Auch die Zimmermänner waren das Gegenteil von Punk und Rock. Mit ihren Pullovern und dem Habitus von Klassensprechern mit großem Latinum. Das war damals in Hamburg provokativer als es eine Lederjacke je sein konnte. Und dafür bekam Bassist und Sänger Timo Blunck in den einschlägigen Vierteln der Stadt auch mal richtig auf die große Klappe. Sein Mitstreiter Detlef Diederichsen hatte Glück. Er fiel nicht so auf. Das Debütalbum der Band hieß: „1001 Wege Sex zu haben ohne dabei Spaß zu haben“. Was für ein Titel. Es vereinte überambitionierten Pop aus den richtigen Quellen mit eigensinnigen, deutschen Texten, die man so noch nicht gehört hatte.

Das Album der Zimmermänner erschien im Jahr 1982, dem bis heute größten Popsommer der Musikgeschichte. In England sprudelte zur gleichen Zeit eine derartige Flut von popmusikalischen Meisterwerken, dass ich nie genug Geld hatte, um das alles zu kaufen. „Pelican West“ von Haircut 100, „You Cant’t Hide Your Love Forever“ von Orange Juice, „The Rise and Fall“ von Madness, „Imperial Bedroom“ von Elvis Costello, Kevin Rowland & Dexys Midnight Runners mit „Too-Rye-Ay“, „The Gift“ von The Jam, „The Lexicon of Love“ von ABC, „English Settlement“ von XTC. Um nur ein paar Beispiele zu nennen. Besprochen wurde das alles im sogenannten Bermudadreieck, das die Kneipen „Luxor“, „Kir“ und „Subito“ bildeten.

In dieser allgemeinen Pop-Euphorie hatte man in Hamburg plötzlich das Gefühl, dass diese Sorte kluger, schöner und humorvoller Popmusik auch in Deutschland möglich sei. Die Markthalle war voll als Andreas Dorau sein Debut-Album präsentierte. Palais Schaumburg schafften es bis nach England und New York. Die Zimmermänner gingen auf Tournee. Der Plan spielte in einem Keller auf St. Pauli. Außerdem gab es noch Saal 2, Fähnlein Fieselschweif, Cocomicos oder Front, denen man zutraute, ein Teil der zukünftigen deutschen Popszene zu sein.

Doch das alles hielt nur einen Sommer. Dann kam die „Neue Deutsche Welle“. Aus den zarten Versuchen einer eigenwilligen Szene wurde ein erfolgreiches Massenprodukt. Dann folgte breitbeinige, deutsche Rockmusik von Leuten, die Herbert, Marius oder Heinz Rudolf hießen. Mit Songtiteln wie „Männer“ oder „Freiheit“. Da hatten es die Zimmermänner mit „Ich werde in der Sonne immer dicker“ natürlich schwer.

Als es in Hamburg später in den 80er Jahren mal wieder Frühling wurde und ein Pop-Phänomen mit dem Namen „Hamburger Schule“ auftauchte, war das eine schöne Sache. Aber der Traum von einem besseren deutschen Pop war längst ausgeträumt. Palais Schaumburg und die Zimmermänner gab es nicht mehr. Andreas Dorau veröffentlichte fleißig weiter abseitige Musik mit noch schrägeren Texten. Die Vertreter der neuen Schule machten es sich in ihrer Nische und in ein paar Kneipen auf St. Pauli gemütlich. Tocotronic und Die Sterne schafften es sogar in die Charts und ausverkaufte Häuser.

Aber nichts konnte die Euphorie, die Energie, den Duft des Sommers 1982 zurückbringen. Diese unbekümmerte Art von Musik mit Humor und Stil, aus der die beste Popmusik gemacht wurde, die es jemals in Deutschland fast geschafft hätte.

Die Zimmermänner spielen ihr neues Album „Zimmermänner spielen Skafighter“ und alte Hits am 14. Juni im Badehaus in Berlin, 16. Juni im Knust in Hamburg, 21. Juni im Ponyhof in Frankfurt, 28. Juni in der Manufaktur in Schorndorf bei Stuttgart und am 29. Juni im Zakk in Düsseldorf.

 

Twitter-Gewitter: Die Grenzen des Unsagbaren und die Meinungsfreiheit

Elon Musk ist umstritten. Weil er einfach das macht, was er für richtig hält?

Der Anfang war so wunderbar unschuldig. Auf Twitter trafen sich Eingeweihte. Menschen, die es faszinierend fanden, was man mit digitaler Technik und dem Smartphone alles anstellen konnte. Menschen, die es spannend fanden, einen virtuellen Marktplatz mit persönlichen Kurznachrichten an alle anderen zu bespielen. Das war damals so ungewöhnlich und neu, dass das SZ-Magazin ausgewählte Tweets von mir abdruckte: „Frank Schmiechen, 45, ist stellv. Chefredakteur der ,Welt Kompakt‘ und einer der ersten Journalisten, der sein Leben und Arbeiten auf Twitter dokumentierte.“

Die Tweets eines Journalisten der WELT (2009 arbeitete ich noch bei Axel Springer) abgedruckt bei der Konkurrenz. Ja, das ging damals. Aus heutiger Sicht klingt es verrückt. Aber für einen kurzen Moment sah es tatsächlich so aus, als ob auf dem Twitter-Planeten über alle irdischen Grenzen hinweg kommuniziert werden könnte. Es war ein sehr kurzer Moment. Dann verhärteten sich die Fronten. Man zog sich auch auf Twitter in seine ideologischen Schützengräben zurück.

Inzwischen wird Twitter von Politikern, Medien, Unternehmen, Journalisten, Maschinen, Regierungen, Institutionen, Ralf Stegner, Geheimdiensten, russischen Bots, ganz normalen Leuten und ganz normalen Durchgeknallten bespielt. Deshalb ist es wichtig, obwohl es kein Massenmedium ist. Twitter lesen und bespielen gehört zur täglichen Routine im vorpolitischen und vormedialen Raum. „Hey, kannst du das mal eben twittern?“ Augenrollen. Trotzdem ist der Kerngedanke des digitalen Mediums offenbar immer noch nicht verstanden worden. Das zeigt sich an der aktuellen Diskussion um den neuen Eigentümer des Netzwerkes Elon Musk.

Es stellen sich bis heute zwei zentrale Fragen: Wer ist verantwortlich für die Inhalte in den sozialen Netzwerken? Und was darf gesagt werden?

Bei traditionellen Medium ist die Sache klar. Der Chefredakteur. Er bestimmt, was publiziert wird und was nicht. In sozialen Netzwerken ist das anders. Hier wird den Nutzern eine Plattform zur Verfügung gestellt, auf der sie ihre Inhalte selber publizieren können, Beiträge konsumieren können oder beides. Gesagt werden kann alles. Auch der größte anzunehmende Unsinn. Wenn er nicht gegen Gesetze verstößt. Oder es kann gar nichts gesagt werden – das ist die Entscheidung des Eigentümers.

Jede Nutzerinnen und jeder Nutzer baut sich aus dieser Kakophonie ein eigenes Twitter. Es ist unsere ganz persönliche Entscheidung, welche Inhalte wir zur Kenntnis nehmen und welche nicht. Ebenso entscheiden wir selber, was wir publizieren und was nicht. Alle sind Chefredakteure. Diese digitale Freiheit kommt wie jede Freiheit mit Verantwortung. Aber nicht jeder Nutzer ist bereit, diese Verantwortung zu tragen. Viele sehnen sich nach einer Instanz, nach einem Chef, der die Dinge für sie regelt und für ein porentief reines Twitter-Erlebnis sorgt.

Mark Zuckerberg hat entschieden, dieser Sehnsucht nachzugeben. Er hat angekündigt, sich in Zukunft mehr darum zu kümmern, welche Inhalte auf seiner Plattform Facebook veröffentlicht werden. Doch Elon Musk wird diese Sehnsucht nach Regulierung nicht befriedigen. Im Gegenteil. Er steht für einen Kurs, der den Twitterianern noch mehr eigene Verantwortung zutraut. Das löst bei vielen Nutzern in Deutschland Wut und Enttäuschung aus. Außerdem will er das hochverschuldete Unternehmen Twitter schnell profitabel machen. Das kommt auch nicht richtig gut an, weil sehr viele Angestellte entlassen werden. Die Entlassungen bei deutschen Unternehmen oder beim Mutterkonzern von Facebook, Meta, finden übrigens nicht halb so viel Beachtung.

Im Kern dreht sich die Diskussion über Twitter aber um das Thema Meinungsfreiheit. Die stellvertretende ZDF-Chefredakteurin Anne Gellinek spricht für viele Musk-Kritiker, wenn sie befürchtet, Musk könne „die Grenzen des Sagbaren erweitern“. Viele Twitter-Nutzer in Deutschland sehnen sich offenbar nach einer Instanz, die für sie darauf achtet, dass das „Unsagbare“ nicht publiziert wird. Menschlich verständlich. Aber nicht zu Ende gedacht. Denn die entscheidende Fragen ist: Wer bestimmt, was dieses „Unsagbare“ sein soll. Wer entscheidet, was nicht gesagt werden darf? Ja, das Recht auf freie Meinungsäußerung ist in vielen Fällen schmerzhaft. Doch diesen Schmerz müssen wir als freie Gesellschaft aushalten.

Musk macht mir als langjähriger Twitterianer überhaupt keine Angst. Was ich für viel bedenklicher halte ist, dass die Grenze des Unsagbaren für viele Twitter-Nutzer nicht erst dort anfängt, wo jemand gegen Gesetze verstößt, sondern oft bereits dort, wo ihre eigene Meinung aufhört.

Foto: Flickr / Daniel Oberhaus

 

Alles wird schneller, kleiner, smarter – nur in Deutschland nicht

Das „Atomium“ in Brüssel besteht aus neun Atomen – und ist völlig ungefährlich. 

Elektroautos sind nichts für mich. Noch nicht. Ich habe keine Lust, mir auf der Strecke von Berlin nach Hamburg Sorgen zu machen, ob ich ohne Stopp ankomme. Sobald ich mit einer Ladung unangestrengt 650 Kilometer schaffe, kommen wir ins Geschäft. Das könnte schon bald passieren. Denn der größte Akkuhersteller der Welt (CATL) optimiert seine Produkte und will damit Elektroautos bereits ab dem kommenden Jahr zu fantastischen Leistungen verhelfen.

Neue Computerchips sind kleiner und leistungsfähiger, meine Musiksoftware setzt der Kreativität keinerlei Grenzen mehr. Künstliche Intelligenz kann in der Landwirtschaft Missernten verhindern und spielt eine wachsende Rolle in der Krebsdiagnostik und im OP-Saal. Schneller, kleiner, smarter. Das ist die natürliche Entwicklung der Technik im vergangenen Jahrhundert.

Keine Zukunft für Atomtechnologie

Doch in einem Bereich wird Deutschland garantiert nicht in den Genuss neuster Technologie kommen. Das ist besonders schade, weil es sich um den Energiebereich handelt, der uns gerade so viele Sorgen macht. Wie die Zukunft der Atomtechnologie aussieht, wird derzeit in China und den USA erforscht. In Deutschland hat man sich davon verabschiedet. Mit Argumenten, die sich auf eine 50 Jahre alte Technologie beziehen. Aber auch Atomkraftwerke werden in Zukunft besser, schlauer, sauberer sein. Nur nicht bei uns in Deutschland.

Technologie wird in Deutschland ähnlich kritisch beäugt wie ein gut sitzender Anzug. Beides ist höchst verdächtig. Unter dem Motto: Eigentlich braucht das niemand. Ein modischer Mann? Kann nur oberflächlich sein. Vernetzung? Ist Kontrolle. Internet? Hassmaschine! Und überhaupt – wo bleibt denn der Datenschutz? Eine Frage, die hartnäckig gestellt wird, bereits Jahre bevor die Gefahr besteht, dass irgendwann irgendwelche Daten fließen könnten.

Innovation geht nicht vom Finanzamt Gelsenkirchen aus

Ein schillernder Mann wie Elon Musk hat bei vielen Deutschen schlechte Karten. Musk ist Technik-Freak, märchenhaft reich, schrill und macht, was er will. Das kommt nicht gut an. Dabei leben wir noch heute sehr gut von den technischen Innovationen, die sich deutsche Nonkonformisten im ausgehendem 19. Jahrhundert ausgedacht haben. Innovation wird nicht vom Finanzamt Gelsenkirchen Süd ausgehen. Unser Wirtschaftsministerium setzt in seiner aktuellen Anzeigenkampagne lieber auf kleines Karo: „Liebe 80 Millionen“, heißt es – und damit sind wir alle gemeint, „Duschkopf wechseln, Eisfach auftauen, Wäsche bei 30 Grad waschen.“

So kleinkariert begegnet Deutschland der drohende Energieknappheit. Duschköpfe. Der Pandemie begegnen wir im kommenden Winter sehr wahrscheinlich mit dem Instrumentarium, das wir bereits in den zwei vergangenen Wintern genießen durften. Kontaktbeschränkungen, Masken, Lockdown. Obwohl die Evaluation der Maßnahmen aufgrund der fehlenden Daten, nur wenig über die Wirksamkeit der Maßnahmen in Erfahrung bringen konnte. Digitale Möglichkeiten werden nicht genutzt. Die Vorsitzende des Ethikrates, Alena Buyx, sagt: „Der Mangel an Digitalisierung ist nicht nur ein riesiger Nachteil, sondern er kann vermutlich Leben kosten.“

Deutschland und zeitgemäße Technik. Vielleicht zwingt uns die Not, unsere Einstellung zu ändern. Ansonsten wird es weitergehen in diesem endlosen, deutschen Trauerspiel.

Foto: Maria Firsova / Flickr

 

 

Mein Freund, der Karl

Der Journalist (links) und der Herr Minister (rechts). Man hat volles Verständnis.

„Konfrontation“ steht drüber. Ich habe extra nochmal nachgeschaut. „Konfrontation.“ Doch was der Spiegel-Journalist Markus Feldenkirchen unter dieser Rubrik in der ARD ablieferte war eher eine Hommage an den Gesundheitsminister als eine Gegenüberstellung nicht übereinstimmender Personen, Meinungen und Sachverhalten. „Karl Lauterbach, menschlich gesehen.“ Das hätte vielleicht besser gepasst. Oder: „Mein Freund, der Karl.“ Mehr Werbung für einen amtierenden Minister hat es in den deutschen Medien wahrscheinlich noch nie gegeben. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern.

Karl Lauterbach ist einer der wichtigsten Politiker Deutschlands. Zumindest war er das bis zum Einmarsch der Russen in die Ukraine. Er gilt als Instanz in Sachen Corona. Was er sagt, denkt und macht, beeinflusst das tägliche Leben von 80 Millionen Deutschen: Rodler, Lagerfeuer-Fans, Kinder an der Eisdiele und in der Schule, Menschen, die abends noch schnell einen Spaziergang machen wollen, Shopping-Fans, Glühweintrinker, Chorsängerinnen, Lehrer, Home-Office-Angestellte, Ärzte und Pflegekräfte, Sterbende, Gebärende, Restaurantbesitzer, Kinobetreiber. Jeder ist betroffen.

Deshalb wäre Lauterbach in normalen Zeiten das Ziel eines besonders kritischen Journalismus. Denn der soll den Mächtigen auf die Finger gucken. So war das jedenfalls mal. Ich habe mich in den vergangenen Monaten häufiger gefragt, weshalb der deutsche Gesundheitsminister so glimpflich davon kommt. Selten wird er journalistisch in die Mangel genommen. Samthandschuhe statt knallharte Recherche sind angesagt. Da hat es zum Beispiel Andreas Scheuer deutlich schwerer gehabt. Woran liegt das?

Die ARD-Sendung „Konfrontation. Markus Feldkirchen trifft Karl Lauterbach“ liefert Anschauung für einen Journalismus, dem die Maßstäbe verrutscht sind.

Wir treffen den privaten Karl Lauterbach. So wird die Reportage zumindest inszeniert. Er wird als Außenseiter und Seiteneinsteiger präsentiert. Er sei kein Kumpeltyp, heißt es. Unterschwellig lernen wir gleich zu Beginn: Der Mann ist etwas sperrig. Ok. Aber ein Supertyp. In diesem  Stil geht es weiter: In seinen Konferenzen hagele es Abkürzungen und Fachtermini. Alles sei superkompliziert. Aber der Minister stecke „knietief im Stoff“, heißt es. Dann kümmere er sich noch um sein „Sorgenkind RKI“. Aber danach habe er endlich Zeit, Studien zu lesen. Zu nachtschlafender Zeit. Das sind dann die Erkenntnisse, die wir auf Twitter genießen dürfen. Hin und wieder liest Lauterbach offenbar etwas zu schnell und zu spät. Danach wird aber nicht gefragt.

Ich bleibe dran. Irgendwann muss es doch eine kritische Frage geben. Aber erstmal wird erzählt, dass Lauterbach nur wenig schläft. Das gilt immer noch als Ausweis von Tüchtigkeit in unserem Land. Aber Lauterbach sei nicht nur in der Lage, die Corona-Thematik zu durchdringen, sondern auch noch zu managen. Das könnten nicht alle Minister, heißt es. Es wolle „alles genau verstehen“ und dann schafft er es auch noch, das Gelernte in praktische Politik umzusetzen, erzählt Markus Feldenkirchen dem staunenden Zuschauer.

Alle wissen, dass Lauterbach gerne in Talkshows geht. Das wird ihm häufig vorgeworfen. Doch Feldenkirchen wirbt um Verständnis. Er tut es für uns. Und Styling brauche der Minister nicht. „Seine Eitelkeit ist inhaltlicher Natur“, sagt Feldenkirchen. Lauterbach-Kritik sei ein neues Genre in der Öffentlichkeit, erklärt er weiter. Bis zu ihm hat sich dieser Trend offenbar noch nicht herumgesprochen. Dafür fragt der Spiegel-Journalist freundlich nach, in welcher Talkshow es das beste Buffet gäbe. Für die einzige inhaltliche Kritik der ersten 45 Minuten, schickt Feldenkirchen WELT-Redakteurin Anna Schneider per Video-Einspieler vor. Danach bekommt Lauterbach noch Gelegenheit, seine Kompromisse in Sachen Hotspots und Impfpflicht zu erklären. Und schmallippig zuzugeben, dass er hin und wieder etwas vorschnell seine Schlüsse zieht.

Lauterbach lebt unter größten Sicherheitsvorkehrungen. Es gibt Aggressionen und Drohungen gegen ihn. Nicht bei allen Deutschen ist er beliebt. Leider kommt das bei vielen Personen vor, die in der Öffentlichkeit stehen. Trotzdem: Die Aufgabe des Journalismus ist es nicht, einen mächtigen Minister zu beschützen. ARD und Spiegel haben es in den vergangenen zwei Jahren nicht geschafft, die Corona-Pandemie angemessen kritisch zu begleiten. Das ist auch ein Grund dafür, dass Kritik an Lauterbach, an Maßnahmen, an Daten und Zahlen, an Auslegungen von Studien bestraft wird. Viel zu schnell landen Zweifler in der rechten Ecke oder werden als Querdenker denunziert. Diesem Vorwurf werden sich Markus Feldenkirchen und die ARD nach dieser Sendung nicht aussetzen müssen.

 

Foto: Screenshot / ARD

 

Kinder, Ratten und warum wir mehr Verunsicherung brauchen

Herr Böhmermann in einer seiner Erfolgsrollen – als Herr Böhmermann

Die Begriffe „Rollenprosa“, „literarisches Ich“ oder „künstlerische Freiheit“ haben mittlerweile ein schlechtes Image. Ich weiß. Ist mir aber egal. Wird schon wieder. Das macht sie nicht falscher. Die aktuelle Debatte um Ratten, Kinder und Herrn Böhmermann zeigt, dass viele kluge Menschen, ein Problem mit diesen Begriffen haben. Das Problem lässt sich meiner Erfahrung nach auch gar nicht aufklären. Trotzdem muss es gesagt werden:

Der TV-Unterhalter Böhmermann verzapft jede Menge unerträglichen Blödsinn. Seine moralinsauere, unlustige Schlaumeierei kann ich nicht ertragen. Aber: Kinder und Ratten hat er nicht verglichen.

Wer sich den oft kommentierten Video-Ausschnitt (siehe unten) aus seiner Sendung ansieht, muss doch sofort bemerken, dass er sich über Leute lustig macht, die Kinder und Ratten vergleichen. Er trägt eine Position vor, die nicht seine eigene ist. Im Idiom der Leute, die er verspotten will. So macht das übrigens auch die Kabarettistin und Autorin Lisa Eckhart. Und sie hat das gleiche Problem wie Böhmermann: Sie wird bewusst mißverstanden, weil das Missverständnis gerade so schön in die Gefühlswelt der meisten Meinungsinhaber passt.

Lisa Eckhart ist natürlich keine Antisemitin. Sie führt Antisemitismus vor. Das muss nicht jedem gefallen. Böhmermann vergleicht nicht Kinder und Ratten, er führt eine Person vor, die Kinder und Ratten vergleicht. Das muss auch nicht jedem gefallen. Doch der allgemeine Aufschrei zeigt, dass wir in Zeiten leben, in denen offenbar immer weniger Menschen bereit sind, nur einmal kurz um die nächste Ecke zu denken. Schwarzer Humor ist abgeschafft. Die Dialektik liegt blutend am Boden. Ja, sogar der gutmütige Harald Schmidt gilt inzwischen als gefährlich.

Die Sex Pistols haben manchmal Hakenkreuze getragen, waren aber keine Nazis. Der Roman „Schuld und Sühne“ von Dostojewski ist keine Aufforderung, einen Mord zu begehen, weil man ohne Strafe davonkommen könnte. Die Band „Deutsch Amerikanische Freundschaft“ wollte nicht, dass wir mit Adolf Hitler tanzen als sie sang: „Tanz den Adolf Hitler.“ Und Ingo Insterburg hatte gar kein Mädchen in den Niederlanden, dessen Kleider sie nie mehr wiederfanden. Irre, oder?

Warum müssen heute die Kunst, Literatur, Straßennamen, Denkmäler, unsere Sprache, Zeitungsartikel oder Fernsehunterhaltung porentief rein sein? So flach wie die norddeutsche Tiefebene. Damit ja niemand auf falsche Gedanken kommt? Damit jeder Idiot sofort versteht, was richtig ist und was gemeint ist?

Ich fordere mehr Verunsicherung! Was nicht verunsichert, ist künstlerisch wertvoll wie der Bergdoktor, intellektuell herausfordernd wie Helene Fischer. Wenn wir uns immer sicher sein wollen und schon Böhmermann mit seiner geistigen Ödnis, die Satire sein soll, eine Überforderung darstellt, ist es an der Zeit endlich zu Hause zu bleiben. Man könnte etwas kochen. Oder eine Runde Karten spielen. Das Bad müsste mal wieder geputzt werden. Das beruhigt ungemein.

Foto: Marco Verch

 

Wie der SPIEGEL Demonstranten pauschal in die rechte Ecke stellt

Gleich in der Unterzeile des SPIEGEL-Artikels geht es los. Dort steht:

„Die Demonstranten geben sich bürgerlich, doch vielerorts stecken Rechtsradikale hinter den sogenannten Spaziergängern gegen die Regierungsmaßnahmen.“

Sie „geben sich bürgerlich“. Übersetzt heißt das: Die bieder erscheinenden Demonstranten sind in Wirklichkeit verkleidete Radikale. Diese Behauptung zieht sich durch den kompletten Artikel der SPIEGEL-Autoren Maik Baumgarten und Ann-Katrin Müller. Einen Beleg dafür liefern sie nicht. Lediglich den Hinweis, dass die „sogenannten Spaziergänge“ oft von Radikalen organisiert werden.

Es mag ja sein, dass Rechtsradikale hinter den Veranstaltungen stecken – aber welche Aussagekraft hat das über die Gesinnung der Teilnehmer?

Gleich im ersten Absatz des Textes wird geraunt: Hunderte Menschen ziehen durch die Straßen Erfurts, „die meisten unauffällig gekleidet“. So machen sie sich natürlich hochgradig verdächtig. Wie in der Unterzeile insinuiert, stecken in diesen unauffälligen Verkleidungen bestimmt Rechtsradikale. Oder könnte es vielleicht sein, dass es sich bei den Unauffälligen einfach nur um unauffällige Bürger handelt? Nächster Satz: „Sie wollen bürgerlich wirken.“ Mein Verdacht: Viele sind bürgerlich.

Aber das will der SPIEGEL nicht so genau wissen. Einen Reporter haben sie offenbar nicht auf die Straße geschickt. Man ersetzt Anschauung durch Theorie, die in die eigene Ideologie und Erzählung passt: Maßnahmenkritiker sind in Wahrheit von Rechtsradikalen oder Verschwörungstheoretiker gesteuert.

Viele „Spaziergänge“ werden in digitalen Netzwerken organisiert. Viele sind von Gewalt und Ausschreitungen begleitet. Die Organisatoren gehören oft wenig appetitliche Gruppierungen an. Auch Verschwörungstheoretiker, Identitäre oder Rechtsaußen spazieren mit. Das hält aber offenbar eine Gruppe von ganz normalen Bürgern nicht davon ab, an diesen Veranstaltungen teilzunehmen. Es gibt ein dringendes Bedürfnis nach zwei Jahren Pandemie der eigenen Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Da nimmt man es sogar in Kauf, dass man von Medien wie dem SPIEGEL ungeprüft mit Radikalen in einen Topf geworfen wird.

Statt alle Spaziergänger pauschal zu Radikalen zu erklären, könnte sich die Medien mit den Kritikern inhaltlich auseinandersetzen. Die zahlreichen berechtigten Sorgen und Einwände gegen staatliche Maßnahmen hätten es verdient. Stattdessen wird durch Texte wie diesen der Eindruck verbreitet, mit jeder Kritik und mit jedem Einwand gegen staatliche Maßnahme unterstütze man Strategien von Rechtsradikalen und Querdenkern.

Von den Organisatoren einer Veranstaltung auf die Teilnehmer zu schließen, ist schlicht und einfach unseriös. Wer weiß schon ganz genau, wer die Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Hamburg organisiert hat? Dabei war übrigens unter anderem die „Interventionistische Linke“. Sie ist laut Wikipedia „eine vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtete und von diesem als ,linksextremistisch’ eingestufte Organisation“.

Diese Kolumne bezieht sich auch den Text „Rechte Profis“ von Maik Baumgärtner und Ann-Kathrin Müller, erschienen im SPIEGEL, Nr. 3, 15. Januar 2022, Seite 13.

Die gefährlichen Löschungs-Fantasien der Social-Media-Kritiker

Ja. Es gibt einen Haufen Dreck, der in digitalen Netzwerken veröffentlicht wird. Keine Frage. Wer sich gerne mit Verschwörungstheorien, Fake News und sonstigem Unsinn berieseln lässt, findet auf YouTube, Facebook oder Telegramm-Kanälen ein reichhaltiges Angebot. Deshalb fordern viele Social-Media-Kritiker schon lange, die Firmen hinter den Kanälen sollten mehr Verantwortung für Inhalte übernehmen, die auf ihren Plattformen veröffentlicht werden und fragwürdige Inhalte löschen. Doch das ist ein gefährlicher Irrweg.

In den vergangenen Tagen hat die Firma YouTube den Betreibern der Initiative #allesaufdentisch eine Woche lang verboten, neue Videos auf ihren YouTube-Kanal hochzuladen. Der Kanal der Website „Achse des Guten“ wurde komplett aus dem YouTube-Angebot gelöscht. Als Grund gab YouTube „medizinische Fehlinformationen“ oder „Fake News“ an. Auf Qualität oder Wahrheitsgehalt der beiden oben genannten Kanäle will ich an dieser Stelle nicht eingehen. Denn das Problem liegt woanders.

Sie dürfen nicht die Realität redigieren

Ich möchte nicht, dass Technologiefirmen für mich die Entscheidung treffen, was Wahrheit ist oder nicht. Erstens sind Sie inhaltlich gar nicht in der Lage dazu. Zweitens haben sie genug damit zu tun, rechtswidrige Angebote von ihren Plattformen zu entfernen. Denn alles, was gegen geltendes Recht verstößt, gehört dort natürlich nicht hin. Aber wir dürfen den Machern digitaler Plattformen nicht die Erlaubnis erteilen, für uns die Realität zu redigieren, für uns zu entscheiden, was wahr oder falsch ist. Diese Arbeit sollten wir weiter selbst übernehmen.

Am Anfang der Pandemie hieß es, dass Masken nicht gegen das Virus helfen würden. Nach der Logik der Löscher hätte also jedes Video von YouTube getilgt werden müssen, in dem zum Tragen der Maske geraten wurde. Dann gab es Experten, die es für möglich hielten, dass das Virus nicht durch eine Fledermaus, sondern durch ein Labor in die Welt kam. Diese Sicht galt lange als Fake News und hätte gelöscht werden müssen. Inzwischen gilt diese Theorie als diskutabel.

Die Sehnsucht nach der einzigen Wahrheit

Wir müssen begreifen, dass digitalen Plattformen etwas anderes sind als traditionelle Medien. Wir Nutzer tragen die Verantwortung, Unsinn als Unsinn zu erkennen. Wenn wir diese Verantwortung delegieren, delegieren wir unsere Freiheit. Ausgerechnet an die Betreiber von digitalen Plattformen, die ganz andere Interessen haben, als verantwortungsvoll Inhalte zu redigieren.

Der Schlüssel zur Lösung ist nicht das Löschen von Inhalten, sondern mehr Medienkompetenz der Nutzer. Wir lesen seit 150 Jahren Zeitungen. Wir haben gelernt mit diesem Medium umzugehen. YouTube gibt es seit 2005. Twitter seit 2006. Statt diesen Konzernen noch mehr Macht zu geben, müssen wir lernen, sie als das zu sehen, was sie sind. Technologie. Plattformen. Was uns dort präsentiert wird, bestimmt in weiten Teilen ein Algorithmus.

Nutzer brauchen einen kritischen Blick. Ganz egal, ob sie ihre Lieblingszeitung, Netflix, Twitter oder die Tagesschau konsumieren. Es gibt keinen Ort, wo die ungefilterte Wahrheit präsentiert wird. Die Wahrheit setzt sich aus vielen Aspekten zusammen, sie macht Arbeit. Ideologen haben es leicht. Sie glauben an schwarz oder weiß. Alle anderen wissen, dass unsere Welt aus Grauwerten besteht. Und zu diesen Grauwerten gehören jetzt auch Inhalte auf digitalen Plattformen. Die Löschfantasien der Social-Media-Kritiker sind in Wirklichkeit eine Sehnsucht nach einfachen Wahrheiten. Aber die gibt es leider nicht.

Illustration: Esther Vargas

 

 

Die gefährliche Technologiefeindlichkeit der Deutschen

Zwei Schlüsseltechnologien für eine bessere Zukunft haben in Deutschland einen schweren Stand. Atomkraft und Digitalisierung. Statt auf Wissenschaft wird in unserem Land zu oft auf Ideologie und Bauchgefühl gesetzt.

Atomkraft? Hochrisikotechnologie, gefährlich, wohin mit dem Müll? Auf diesem Niveau bewegt sich die Diskussion rund um Atomkraft in Deutschland. Ähnlich läuft es bei Daten. Gläserner Mensch, schöne neue Welt, Totalüberwachung. Wir sollten viel mehr auf die Wissenschaft hören, wird in Leitartikeln und Sonntagsreden gerne verlangt. Leider ist das Gegenteil der Fall: In Deutschland regieren Ideologie und Bauchgefühl.

Vielleicht kommt Atomkraft zu spät, sie ist wahrscheinlich zu teuer und eine Sackgasse. Kann sein. Vielleicht können neue Erfindungen in diesem Bereich unsere Energiewirtschaft intelligenter machen. Wir Deutschen werden nie erfahren, was in Zukunft möglich ist. Weil wir uns im Gegensatz zur restlichen Welt von dieser Technologie verabschiedet haben.

Das ist gefährlich für unser Land. Wir leben von unserem Erfindungsgeist. Es war mal die große Stärke der Deutschen, neue Technologien zu entwickeln und zu verfeinern. Das machen jetzt andere.

Für den Schritt in eine klügere Zukunft braucht es Mut. Risiken müssen eingegangen werden. Nach der Erfindung der Eisenbahn wurde behauptet, dass der Mensch für diese Geschwindigkeiten nicht geschaffen sei. Es hieß, die Rauchwolken der Lokomotiven würden hindurchfliegende Vögel töten, Kühe in der Nähe der Bahnhöfe würden keine Milch mehr geben.

Auch heute wird in Deutschland gezagt und gezaudert. Die Angst vor Risiken überwältigt die Neugierde und die Lust auf mögliche Chancen. Staunend schauen wir immer noch auf die digitale WIrtschaft, die vor 20 Jahren vor allem in den USA und in China entstanden ist und alle anderen Wirtschaftsbereiche überflügelt hat. Wir sind immerhin führend im Datenschutz.

Atomkraft wird als „Hochrisikotechnologie“ abqualifiziert. Fukushima wird immer wieder als „Atomkatastrophe“ bezeichnet, obwohl es eine Tsunami-Katastrophe war. Die gerne bemühte „mächtige Atomlobby“ in unserem Land scheint gar nicht so mächtig zu sein. Sonst würde wir die Kraftwerke nicht abschalten und die komplette Technologie verbieten. Übrigens sind weltweit mehr Menschen an verschluckten Knochen gestorben als an havarierten Atomkraftwerken.

Aber was sind schon Fakten, wenn Politiker wie Ralf Stegner und viele andere seiner Generation mit dem Kampf gegen Atomkraft politisch groß geworden sind. Die Technologiefeindlichkeit steckt vielen Deutschen in den Knochen. Stegner schreibt auf Twitter von einer „gefährlichen Dinosauriertechnologie“ und nennt die Entscheidung der EU ein „absurdes Einknicken gegenüber mächtiger Atomlobby“. Der Original-Sound der 80er-Jahre.

„Gefährlich?“ Das geben die Daten nicht her. Siehe verschluckte Knochen. „Dinosauriertechnologie?“ Nur wenn man die Entwicklung und Forschung einstellt. Wie bei uns in Deutschland. „Einknicken“ vor der mächtigen Lobby? Nun, Frankreich und viele andere EU-Länder haben sich entschieden, diese Technologie weiter zu nutzen, zu entwickeln und zu forschen. Sie setzen auf Zukunft. Deutschland bleibt in vielen Bereichen lieber freiwillig in der Vergangenheit stecken.

Foto: Fukushima Day (c) GLOBAL 2000/Alexander W. Jandl

„Bundes-Notbremse“: Der gefährliche Automatismus der Unfreiheit

Alle wollen Leben retten, die Intensivstationen vor Überlastung schützen. Niemand kann der Politik ihre guten Absichten absprechen. Aber die Frage darf erlaubt sein: Ergreifen wir damit wirklich die richtigen Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie? Ich habe eine ganz klare Meinung: Diese Gesetzesnovelle mit dem Spitznamen “Bundes-Notbremse” ist gut gemeint, führt aber einen gefährlichen Automatismus der Unfreiheit in Deutschland ein.

Die Freiheiten aller Deutschen hängen ab jetzt nämlich vom sogenannten Inzidenzwert ab.  Eine Feinjustierung der Pandemie-Maßnahmen durch die Bundesländer wird abgeschafft. Die Regierung in Berlin entscheidet alleine aufgrund einer Zahl. Vom Inzidenzwert soll abhängen, ob wir auf die Straße gehen dürfen oder die Schulen schließen müssen. Mehr als 100 bedeutet Ausgangsverbot von 21 Uhr bis 5 Uhr, mehr als 200 an drei Tagen bedeutet Schulschließungen. Punkt.

Wie bei jeder anderen Entscheidung der Politik im Kampf gegen Corona gibt es bestimmte Nebenwirkungen, die wir in Kauf nehmen müssen. Das ist eine schwierige politische Abwägung. Aber der Kollateralschaden an der Freiheit ist in diesem Fall nicht mehr zu verantworten. Hier sind ein paar Gründe:

  • Der Inzidenzwert ist keine belastbare Größe. Ostern hat gezeigt, dass die Daten unzuverlässig sind. Außerdem hängt der Wert davon ab, wie viel getestet wird.
  • Bleiben wir bei der Zahl der Infizierten als Referenzgröße, auch wenn die Krankenhäuser irgendwann leerer werden, weil die Zahl der schweren Verläufe abnimmt?
  • Viele Experten bezweifeln, dass nächtliche Ausgangssperren eine positive Auswirkung auf das Infektionsgeschehen haben.
  • Im Freien sind Ansteckungen unwahrscheinlich, sagen Aerosolforscher. Was spricht also dagegen, nach 21 Uhr eine Runde um den Block zu spazieren?
  • Menschen, die sich sowieso an keine Regeln halten, werden auch Ausgangssperren umgehen.
  • Die Ministerpräsidenten in den Bundesländern werden aus der Verantwortung entlassen. Wer wüsste besser als sie, was für ihr Bundesland die intelligenteste Lösung in der Pandemie ist? Jetzt übernimmt eine starre Zahl das Ruder.
  • Was ist eigentlich mit den Geimpften? Müssen die auch zu Hause bleiben? Warum? Wir verletzen freiheitliche Grundrechte der Deutschen. Völlig grundlos.
  • Es gibt andere Mittel, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Seit ein paar Tagen steht fest, dass ein Asthma-Medikament schwere Verläufe einer Infektion verhindern kann. Wo sind Politiker, die daraus Schlüsse ziehen und dieses Mittel großflächig einsetzen lassen? Das kann die Intensivstationen effektiver entlasten als eine Ausgangssperre.
  • Viele Experten halten die Ausgangssperren für “verfassungsrechtlich fragwürdig”. Ist die rechtliche Lage ausreichend geprüft worden? Oder wackelt die Gesetzesnovelle jetzt schon?

Ich bin sicher: Die Hoffnungen der Deutschen, die sich hinter diese Gesetzesnovelle stellen, weil sie Leben retten wollen, werden enttäuscht. Diese sogenannte Notbremse wird nicht dafür sorgen, dass sich die Lage auf den Intensivstationen bessert.

Das Gesetz hat einen ganz anderen Effekt: Der größte Teil der persönlichen Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes verlagert sich endgültig in Richtung Regierung. Dabei hat jeder Deutsche es zum großen Teil selbst in der Hand, wie sich die Pandemie entwickelt. Die Maßnahmen, die jeder ergreifen kann, liegen auf der Hand und sind bekannt.

Die wirksame Methode einer digitalen Nachverfolgung von Infektionen wird in Deutschland abgelehnt. Aus Angst vor Überwachung. Dafür werden jetzt Ausgangssperren verhängt und in vielen Kreisen sogar begrüßt. Manchmal bringt mich dieses Land zur Verzweiflung – und lässt mich am Freiheitswillen seiner Bürger zweifeln.

Foto von Erik Mclean von Pexels

Alle Menschen sind gleich? Das ist vorbei!

Wir Boomer sind in den 70er Jahren groß geworden. Damals hat man gerne behauptet, dass alle Menschen gleich seien. Sie sollten deshalb auch gleich behandelt werden. Ich habe schon damals nicht geglaubt, dass das funktioniert. Aber diese Einstellung war in jenen Zeiten ein wichtiger Bestandteil der herrschenden Hippiekultur.

Das hat sich dramatisch geändert. Alle sind anders, heißt es heute. Jeder Mensch wird in eine Schublade gesteckt. Das Argument dafür geht ungefähr so: Es sei etwas ganz anderes, wenn ich als weißer Boomer etwas sage oder eine junge Frau, die in Afrika aufgewachsen ist.

Ich bin nach heutiger Lesart ein heterosexueller Cis-Mann, Angehöriger der Babyboomer-Generation und Flexitarier. Ein Boomer, wie er im Buche steht. Die Schublade der Cis-Männer ist sehr geräumig. Fast alle weißen Boomer-Männer passen dort rein. Ob sie wollen oder nicht.

Ein Freund von mir ist queerer Cis-Mann. Er ist homosexuell. Aber auch Cis-Mann. Das bedeutet, wir beide identifizieren uns “mit dem uns von außen zugeschrieben Geschlecht”. Wir werden als Männer gesehen und empfinden uns auch als Männer. Da kann man leider nichts machen.

Daneben gibt es heute unzählige andere Schubladen der sexuellen Identitäten, Hautfarben, Herkünfte, Glaubensrichtungen, Ernährungsvorlieben oder politischen Einstellungen. Jeder bekommt gnadenlos sein Etikett. Seltsam: Denn auf der anderen Seite sollte man besser nicht fragen, wo jemand herkommt. Rassismus-Verdacht!

Wer die heutigen Regeln der Identitäten nicht versteht, kann sehr schnell Probleme bekommen. Als weißer Mann stünden meine Äußerungen zum Thema Rassismus unter besonderer Beobachtung. Wenn ich darüber etwas sagen würde. Fragen nach sexueller Orientierung verbieten sich. Obwohl die Themen Diversität und gendergerechte Sprache so populär geworden sind.

Die Hippies von damals wären heute jedenfalls auf verlorenem Posten. Alle Menschen gleich? Zu einfach. Vorbei. Aber aufpassen musste man auch in den 70ern. Ein falsches Wort – und du warst raus aus der kuscheligen Hippiehölle, in der angeblich alles gesagt und gedacht werden durfte. Gottseidank kam dann der Punk.